BAMgA

Grußwort von Cemile Giousouf beim “Vernetzungstreffen West” der BAMgA

Grußwort von Cemile Giousouf,
Leiterin der Fachabteilung sowie Vertreterin des Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB).

Sehr geehrte Frau Zare,   

sehr geehrte Frau Sandler,

sehr geehrter Herr Djafari,

meine sehr verehrten Damen und Herren,     ⠀

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ich freue mich sehr, dass ich heute hier bei Ihnen sein kann!

Ihre gemeinsame Initiative gegen Antisemitismus ist beispielhaft, gerne möchte ich einige Gedanken aus Sicht der politischen Bildung beisteuern:

Politische Bildung möchte Menschen befähigen, sich über gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen zu informieren und eine Meinung zu bilden. Sie möchte Vorurteile erschüttern und anregen, bestehende Vorstellungen zu überdenken.

Antisemitismus gehört ohne Zweifel zu den ältesten Vorurteilen der Menschheit und hält sich doch hartnäckig als gesellschaftliches Problem, auch in modernen Einwanderungsgesellschaften. Vor diesem Hintergrund ist die Auseinandersetzung mit Antisemitismus eine Kernaufgabe unserer Profession.

I.

Meron Mendel, der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, hat einmal zu mir gesagt: Am Ausmaß des gesellschaftlichen Antisemitismus erkennt man den Zustand einer liberalen Demokratie insgesamt. Ich finde das sehr plausibel.

Denn was ist konstitutiv für die liberale Demokratie?

Vielleicht würden Sie jetzt antworten:  Die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen. Oder Sie sagen: Eine hohe Wertschätzung für das Individuum, die den Einzelnen und die Einzelne als einmalig und eben nicht in erster Linie als Bestandteil eines naturalisierten Kollektivs versteht. Vielleicht ist ihr erster Gedanke aber auch: Eine kritische, rationale und aufgeklärte Grundhaltung, auf deren Basis Behauptungen hinterfragt werden können und sollen.

All diese und viele andere mögliche Antworten haben eines gemeinsam: Sie sind das Gegenteil dessen, was sich im Antisemitismus vereint. 

Daher ist es nicht überraschend, dass mit der krisenhaften Entwicklung der letzten Jahre und dem Aufstieg demokratiefeindlicher Ideen und Akteure auch antisemitische Vorfälle zunehmen. So haben die Sicherheitsbehörden In Deutschland im Jahr 2021 mehr als 3.000 antisemitische Straftaten registriert. Dass entspricht einem Anstieg um mehr als 25 Prozent zum Vorjahr 2020, in dem rund 2.400 antisemitische Straftaten bereits den Höchststand der vergangenen zwei Jahrzehnte bedeuteten. Und das sind nur die strafrechtlich relevanten Vorfälle, also die viel zitierte „Spitze des Eisberges“.

Selbst von diesen Straftaten erfahren wir in der Regel nur, wenn es zu spektakulären öffentlichen Übergriffen wie dem Anschlag von Halle im Oktober 2019 kommt. Doch auch im letzten Jahr forderten 63 antisemitisch motivierte Gewalttaten neben traumatisierten und verängstigen Menschen und neben 24 verletzten Personen wieder vier Menschenleben.

Diese Übergriffe kommen nicht aus dem Nichts, sie wachsen auf 30 Prozent zumindest teilweiser Zustimmung der Bevölkerung zu antisemitischen Thesen, die uns Studien regelmäßig vor Augen führen. Sie wachsen auch auf Ignoranz oder Gleichgültigkeit, darauf dass die klare Ablehnung antisemitischer Einstellungen abnimmt. „Die deutliche Ächtung des Antisemitismus weicht auf“, bilanzierte kürzlich Beate Küpper von der Hochschule Niederrhein, eine Co-Autorin der einschlägigen Mitte-Studie.

II.

Woher speist sich die Wucht dieser menschenverachtenden Weltsicht?

Oder, banaler ausgedrückt: Was haben Menschen davon? Warum folgen sie an Verfolgungswahn grenzenden Ressentiments, die alles Böse dieser Welt bei einer ethnoreligiös konstruierten Gruppe vermuten?

Leider gibt es mehr als eine Antwort auf diese Fragen. Denn es sind eine ganze Reihe verschiedener Funktionen, die der radikale Judenhass erfüllt. Sie führen auch dazu, dass es nicht den Antisemitismus gibt, sondern eher verschiedene Antisemitismen, die sich allerdings nicht gegenseitig ausschließen und häufig in Kombinationen auftreten.

Um nur die bekanntesten und derzeit wohl wirksamsten zu erwähnen: Neben dem „klassischen“ Antisemitismus von Rechtsaußen haben wir es in Teilen der radikalen Linken mit einem antiimperialistisch verbrämten, Israel-orientierten Antisemitismus zu tun, der indes auch in anderen politischen Spektren anschlussfähig ist. Als spezielle deutsche Spielart hat sich zudem der sog. Schuldabwehr-Antisemitismus, auch Sekundärer Antisemitismus genannt, entwickelt.

Aus Zeitgründen verzichte ich an dieser Stelle auf eine ausführliche Vorstellung dieser Varianten. Jedoch möchte ich auf zwei bisher nicht dezidiert genannte Phänomene kurz eingehen: Sie betreffen die Verbreitung von Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft und bei den sog. „Anti-Corona-Protesten“.

III.

Zunächst zu Letzterem: Im Zuge der populistischen Bewegungen, die in „Querdenken“ oder „Freie Sachsen“ ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht haben, verbreiten sich verschiedene Verschwörungsideologien, die an antisemitische Klischees anschließen:

Strukturell entsprechen alle Erzählungen, nach denen sich eine Gruppe von Strippen-ziehenden mit einem niederträchtigen Plan gegen die Menschheit verschworen hat, dem zentralen antisemitischen Narrativ – auch wenn dort nicht dezidiert Juden genannt werden.

Hinzu kommt die bizarre Überhöhung der eigenen Opfer- oder Widerstandsrolle, sei es in der Form von „Judensternen“ mit „Umgeimpft“-Aufdruck, sei es durch die  Gleichsetzung von Lockdown-Folgen mit dem Schicksal Anne Franks. Effekt dieses Missbrauchs ist eine Trivialisierung der NS-Judenverfolgung. Sie wird nicht nur fundamental verharmlost, sondern durch den Missbrauch ihrer Symbolik und Opfer auch normalisiert und zum legitimen Argument politischer Selbstinszenierung. Derartige Bilder von Demonstrationen in Deutschland finde ich geradezu beschämend.

Untersuchungen des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) haben ergeben, dass es im ersten Corona-Jahr (März 2020 bis März 2021) auf Versammlungen, die sich gegen die Maßnahmen richteten, 324 antisemitische Vorfälle gegeben hat. Ein Trend der offenbar anhält:  Allein zwischen dem 20. November 2021 bis zum 08. Januar 2022 zählte der RIAS erneut 91 Corona-Protestveranstaltungen mit antisemitischen Erscheinungsformen.

Es liegt nahe, warum diese Bewegung – wenn auch z.T. subtil und indirekt –  antisemitische Facetten zeigt. Handelt es sich doch, wie etwa Andreas Speit in seinem einschlägigen Buch „Verqueres Denken“ argumentiert, im Kern um eine antimoderne Agitation.

Anthroposophinnen und völkische Nationalisten finden hier zusammen in der gemeinsamen Ablehnung der komplexen (Post-)Moderne mitsamt ihrer medizinisch-technischen Entwicklung, ihrer arbeitsteiligen Subsysteme und ihrer repräsentativen Demokratie. Sie setzen dem einen romantisierenden Blick zurück entgegen, in eine vermeintlich natürliche wie harmonische frühere Zeit.  

Diese Abwehrhaltung, gespeist aus fehlender Ambiguitätstoleranz und Überforderung mit der dynamischen und komplexen Gegenwart ist nicht zufällig parallel zum modernen Antisemitismus entstanden – bietet Antisemitismus doch einen Ausweg aus eben jener Ambiguität und Komplexität.

Der Politikwissenschaftler Lars Rensmann hat diese Funktionalität so formuliert:

"Antisemitismus wirkt […] als identitätskonstituierendes Phantasma, das die komplexe Welt […] mit unterschiedlichsten, teils offen widersprüchlichen Vorstellungen von Juden belehnt. Tradierte antijüdische Bildwelten, Ressentiments und Verfolgungs-praktiken haben sich dabei in der modernen Gesellschaft zu einer spezifischen ‚anti-modernen Ideologie‘ entwickelt, die in Juden alle gesellschaftlichen und psychosozialen Probleme, Widersprüche und Transformationen personifiziert […].

Die Besonderheit des Antisemitismus besteht also vor allem darin, als grenzenlose Projektionsfläche von Ängsten, Wünschen und Sehnsüchten sowie als universale, griffige ‘Erklärung‘ sämtlicher Konflikte in der modernen Welt zu fungieren“.

Ähnliches meint auch Samuel Salzborn, wenn er von der „Unfähigkeit und Unwilligkeit, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen“ spricht. Der Antisemitismus vertausche beides, so Salzborn: Das Denken solle hier konkret, das Fühlen aber abstrakt sein, wobei die nicht ertragene Ambivalenz der Moderne auf das projiziert werde, was man für jüdisch hält.

IV.

Da diese „Unfähigkeit und Unwilligkeit“ in diversen Milieus und Gruppen vorkommt, sind sie alle nicht vor Antisemitismus gefeit – auch nicht die migrantischen Communities.

In der Öffentlichkeit richtet sich der Fokus vor allem auf Muslime als antisemitische Akteure. Mir scheint das vor allem eine Entlastungsstrategie nicht-muslimischer Personen zu sein, die das Problem hierdurch gewissermaßen „outsourcen“ können.

Nicht selten ist dieser kollektive Antisemitismus-Vorwurf zudem seinerseits Teil einer migrationsfeindlichen Agenda. Das ist insofern besonders perfide, als der antimuslimische Rassismus selbst latenten Antisemitismus beinhaltet. Das zeigt etwa die gleichzeitige Thematisierung des Investors Georges Soros mit dem Verschwörungsmythos des „Großen Austausches“. Auch der Attentäter von Halle wollte beide Gruppen attackieren.

Ideologien über angebliche Bedrohungen von etwas „Eigenem“ werden häufig kombiniert, der schon erwähnte Meron Mendel spricht hier vom Gesamtpaket, als das gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in der Regel auftritt und das übrigens keineswegs bei ethnischen Konstruktionen haltmacht.

Dennoch: Es ist nicht zu bestreiten, dass auch islamische ebenso wie christliche Religionsausübung einen judenfeindlichen Charakter zeigen kann. Und wie in den historisch christlich geprägten Gesellschaften haben sich auch in mehrheitlich muslimischen Ländern uralte Ressentiments und Schauermärchen zum Teil seit dem Mittelalter gehalten bzw. sie wurden zum modernen Antisemitismus transformiert.

Bei vielen Staaten des Nahen Osten und Nordafrikas kommt hinzu, dass es sich hier vielfach um autokratische Systeme und/oder despotische Herrscher handelt – jedenfalls gerade nicht um liberale Demokratien. Vielfach ist hier nicht etwa das Existenzrecht Israels Staatsraison, sondern eher dessen Gegenteil.

Hier sollte besonders die funktionale Dimension betont werden, die in der Herrschaftsstabilisierung fundamentalistischer Regime oder der Integration radikaler Bewegungen liegt. Für jene Gruppen und Ziele ist Antizionismus ein probates Mittel, den Vormarsch der Moderne zu stoppen.

Es liegt insofern nahe, dass Migration aus diesen Regionen auch antizionistische Einstellungen und eben auch Antisemitismus mitbringt und manchmal auch noch nachfolgende Generationen betrifft – wenn auch beileibe nicht bei jeder migrierenden Familie, immerhin wollen viele hier ein neues Leben gerade ohne staatlich verordnete Hassideologien und ethnoreligiöse (Bürger-)Kriege anfangen.

Vor dem Hintergrund des Nahost-Konfliktes spielt daher in einigen migrantischen Zusammenhängen insbesondere der schon erwähnte Israel-orientierte Antisemitismus eine Rolle. So kam es im Mai 2021 zu Aggressionen und Angriffen vor Synagogen in Bonn, Gelsenkirchen, Münster oder Düsseldorf. Auch das waren beschämende Bilder! Es ist unerträglich, wenn in Deutschland wieder Synagogen angegriffen werden.⠀

Wo antisemitische Akteure Spezifika in Ideologie(n) und Ausdrucksformen zeigen, die mit ihrer Religion oder familiären Herkunft zusammenhängen, müssen diese auch als solche benannt und in gezielten Formaten angegangen werden. Unter Muslimen verbreitetere Formen des Antisemitismus speisen sich allerdings ganz wesentlich aus europäischem Wurzeln; auch deswegen gibt es hier keine trennscharfen Linien zu antisemitischen Nicht-Muslimen.

V.

Damit bin ich bei der abschließenden Frage, wie politische Bildung im Allgemeinen und die bpb im Besonderen mit dem Thema umgeht. Genauso wie es – wie eben kurz skizziert – keine singulären Ursachen oder Problemgruppen für Antisemitismus gibt, haben wir auch kein Allheilmittel in der Bildungsarbeit. Wir verfolgen daher verschiedene Ansätze, die nicht miteinander in Konkurrenz stehen sollten

Politische Bildung löst im Idealfall Prozesse bei Menschen aus. Sie liefert keine kurzfristigen Antworten oder Lösungen, sondern braucht Zeit, Interesse, Wissen und geeignete Vermittlungsformen. Sie soll sensibilisieren für antisemitische Aussagen, Verhaltensweisen und Einstellungen und zur Reflexion anregen.

Hierbei helfen Irritationen, um vorgefertigte Bilder aufzubrechen. Der direkte Weg dahin sind Begegnungen. Gerade wenn es um das Ziel geht, das „Gesamtpaket gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ aufzubrechen, können so anonymisierte Kollektive (a` la die Juden, die Migranten usw.) dekonstruiert werden.

Ein Beispiel ist das von der Europäischen Janusz Korczak Akademie in München konzipierte Projekt „Rent a Jew“, das von der bpb gefördert wurde. „Rent a Jew“ vermittelte ehrenamtliche jüdische Referentinnen für Begegnungen. Die Referenten bekamen dabei keine Vorgaben darüber, was sie sagen oder erzählen sollten. Es oblag allein ihnen, wie sie den offenen Austausch und das gegenseitige Kennenlernen gestalten.

Da sich jüdisches Leben heute in Deutschland vor allem auf die Städte konzentriert, war insbesondere in ländlichen Regionen der Bedarf für ein solches Begegnungsprojekt sehr hoch.

Ein früher und obligatorischer Begegnungsort ist die Schule. Politische Bildung an Schulen bietet spezifische Möglichkeiten, versammelt diese Institution doch regelmäßig und kontinuierlich soziale Gruppen, deren Aushandlungen verschiedenster Art mit dem individuellen Heranwachsen und der Persönlichkeitsbildung einhergehen.

Hier kann also etwas getan und werden und hier muss auch etwas getan werden: Verschiedene aktuelle Studien dokumentieren die massive Verbreitung von Antisemitismus an deutschen Schulen – und zwar sowohl bei nahöstlicher Herkunft und/oder muslimisch geprägter Schülerschaft als auch unabhängig davon.

Beispielhaft für eine nachhaltige Strategie an den Schulen möchte ich daher hier kurz das Projekt „Starke Lehrer – starke Schüler“ erwähnen, eine Kooperation mit der Robert-Bosch-Stiftung. Das Projekt richtet sich an Lehrkräfte berufsbildender Schulen, die über einen Zeitraum von drei Jahren im Umgang mit antidemokratischen und rechtsextremen Haltungen qualifiziert werden. Neben den inhaltlichen Fortbildungen (u.a. zu Antisemitismus und Verschwörungserzählungen) langfristige Coaching-, Beratungs- und Supervisionsprozesse im Fokus. Ziel ist es, Verhaltens- und Reaktionsstrategien im Umgang mit antidemokratischen Positionen und Äußerungen zu erlernen.

Über diese und weitere unserer Formate und Produkte möchte ich gleich gerne noch mehr berichten. Vor allem aber freue ich mich darauf, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und mehr über Ihren Ansatz und Ihre Sicht auf das Thema zu erfahren!⠀

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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